Stimmen aus Belarus am Tag der Wahlen
(Red.) Erwartungsgemäß wurden die Präsidentschaftswahlen in Belarus von den westlichen Medien fast ausschließlich mit Pauschalkritik kommentiert: Es fehle diesen Wahlen die Legitimität, hiess es etwa. Stefano di Lorenzo hat sich die Zeit genommen und ist hingereist und hat dort auch mit dem sogenannten „Mann auf der Straße“ Kontakt aufgenommen, um zu erfahren, wie Präsident Lukaschenko beurteilt wird. Und siehe da: Es ist kein Zufall, dass es diesmal zu keinen namhaften Protesten kam, man lebt in Belarus nicht so schlecht, die Menschen haben, was sie brauchen. Doch man lese ihn selbst. (cm)
Die Wahlen in Belarus brachten erwartungsgemäß keine Überraschungen. Präsident Alexander Lukaschenko, der seit 1994 im Amt ist, hat mit fast 87 % der Stimmen erneut einen deutlichen Sieg erreicht. Die einzige Überraschung war vielleicht das Ausbleiben von Protesten, anders als im Jahr 2020, als das Land, zumindest in der medialen Darstellung, für einige Tage am Rande einer Revolution zu stehen schien. Eine solche Revolution hätte das Schicksal von Belarus für immer verändern können, ähnlich wie es sechseinhalb Jahre zuvor in der Ukraine geschehen war.
Beobachtern und normalen westlichen Bürgern mag Lukaschenkos Sieg — sein siebter Wahlsieg in 30 Jahren, um genau zu sein — absurd, unglaublich, unecht und diktatorisch erscheinen. Auch ein beträchtlicher Teil der belarussischen Bürger scheint so zu denken. Für viele in Belarus scheint Politik etwas Abstraktes zu sein, ein geheimes Machtspiel, auf das man als normaler Bürger keinen Einfluss hat. Sich darüber zu viele Gedanken zu machen, wäre nur Zeitverschwendung, solange der Staat den Bürgern die Freiheit lässt, zu arbeiten, Spaß zu haben und für ihre eigene wirtschaftliche Stabilität zu sorgen. „Die Regierung und das Volk in Belarus bewegen sich parallel zueinander, ohne sich jemals zu begegnen“, sagt Evgenia* (Name geändert), eine Frau, die seit zwanzig Jahren Russisch für Ausländer in Minsk unterrichtet.
Nach 2020 sahen sich viele Belarussen, vor allem junge Leute, aber nicht nur sie, gezwungen, das Land zu verlassen. Entweder weil sie an den Protesten teilgenommen hatten oder weil sie einfach zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen waren, wie einer von Evgenias Söhnen. 2020 wanderte er ins benachbarte Vilnius in Litauen aus, nachdem er eine Woche lang festgehalten worden war, als er einfach zur Arbeit ging. Heute gibt es eine große belarussische Diaspora in Litauen und auch in Polen. Im Jahr 2023 waren die Belarussen nach den Ukrainern die zweitgrößte Gruppe, die eine Aufenthaltsgenehmigung in der Europäischen Union erhielt. Wenn so viele Menschen das Land verlassen, muss es Belarus nicht allzu gut gehen, oder? Dennoch steht das Land heute viel besser da, als es auf den ersten Blick scheinen mag.
Die große Verarmung
In Belarus, wie auch in Russland und der Ukraine, sind für viele der Zusammenbruch der Sowjetunion und das Trauma des abrupten Übergangs von einer Planwirtschaft, die auf Industrie basierte, zum liberalen Kapitalismus die entscheidenden Ereignisse, die das Bewusstsein von Millionen geprägt haben. Für einige hatten die brutalen Privatisierungen der 1990er Jahre nicht zu dem erhofften raschen Wirtschaftswachstum geführt, sondern zum Verlust all dessen, was im Laufe eines Lebens erworben worden war. Menschen, die bis vor kurzem noch Fabrikmanager oder Professoren gewesen waren, sahen sich gezwungen, als Taxifahrer oder Reinigungskräfte zu arbeiten, um ihre Familien zu ernähren. Dies bedeutete nicht nur einen finanziellen Verlust, sondern auch den sozialen Abstieg in eine neue Gesellschaft, die nur schwer oder gar nicht zu verstehen war.
In der Ukraine versprach der erste Präsident Krawtschuk, dass die Ukraine nach der Unabhängigkeit und der Umstrukturierung der Wirtschaft so reich wie Frankreich sein würde. Die Ukraine ist aber heute das einzige Land der ehemaligen Sowjetunion, dessen BIP niedriger ist als 1991 — und das noch vor dem Krieg. 1996 wurde der russische Präsident Jelzin nach vier katastrophalen Jahren nur dank der Unterstützung erfahrener amerikanischer Berater wiedergewählt. Nach weiteren vier Jahren, in denen es möglicherweise noch schlimmer ging, trat Jelzin in der Silvesternacht 2000 zurück und übergab die Macht an den damaligen Premierminister Wladimir Putin. Die Oligarchen, die während Jelzins Herrschaft eine überproportionale Macht ausgeübt hatten, dachten vielleicht, dass es leicht sein würde, auch Putin zu kontrollieren. Es lief, wie es später klar wurde, ganz anders.
Und die Wiedergeburt der UdSSR
In Belarus wiederum unterlag schon im Juni 1994 der damalige Präsident Schuschkewitsch, einer der drei Unterzeichner des Abkommens von Belowesch, mit dem die Sowjetunion beendet wurde, deutlich seinem Herausforderer, einem jungen Alexander Lukaschenko — er war zu der Zeit 39 Jahre alt —, der sich damals wie heute als national-populistischer Politiker positionierte. Lukaschenko wollte das Erbe der Sowjetunion so gut wie möglich retten, anstatt es vollständig zu beseitigen. Es ist fast schon ein Klischee, dass Belarus heute, dreißig Jahre später, immer noch ein lebendiges Überbleibsel der Sowjetunion ist, aber das Klischee hat eine wahre Grundlage. Auch heute noch arbeitet ein großer Prozentsatz der Belarussen im staatlichen Sektor.
Lukaschenkos Auftreten war vielleicht etwas ungeschliffen, aber im Gegensatz zu vielen anderen Politikern verstand er es, mit dem Volk zu sprechen. Er war einer aus dem Volk und schämte sich nicht, es zu sein. Der Herausforderer Lukaschenko erhielt damals mehr als vier Millionen Stimmen, d. h. 80 % der Gesamtzahl, und zu dieser Zeit wäre es schwer gewesen, ihn der Wahlfälschung zu bezichtigen. Lukaschenko versprach die Wiederherstellung normaler Beziehungen zu Russland und der Ukraine, im Gegensatz zu vielen anderen Politikern jener Zeit, die eine möglichst weitgehende Annäherung Belarus an den Westen anstrebten. Der Weg nach Westen schien damals fast der einzige Weg, Wirtschaft und Gesellschaft zu organisieren.
Sicherlich ist die politische Realität in Belarus gestern wie heute für den europäischen und amerikanischen Durchschnittsbürger schwer zu verstehen. Wie war es möglich, dass das belarussische Volk sich nach der Sowjetunion sehnte? War die Sowjetunion nicht das Symbol für sinnlose Unterdrückung, Diktatur, Rückständigkeit und Armut gewesen, ja sogar das „Reich des Bösen“, wie US-Präsident Reagan es ausdrückte, mit einem Satz, der eine ganze Ära prägte? Für viele, die die Sowjetunion von innen kannten, waren aber die Nachkriegsjahre, insbesondere die Breschnew-Ära von 1964 bis 1982, im Gegenteil eine Zeit der Ruhe und Stabilität und, so unglaublich es dem europäischen oder amerikanischen Leser erscheinen mag, sogar eine Zeit des bescheidenen Wohlstands. Die Sowjetunion war darüber hinaus ein autarkes Land, das mit dem Westen konkurrieren konnte, vor allem im Bereich der Schwerindustrie, was viele Bürger mit Stolz erfüllte.
Wir können es auch schaffen
Stabilität, bescheidener Wohlstand und Autarkie sind in vielerlei Hinsicht Dinge, die die Belarussen auch heute noch zu schätzen wissen. Heute liegt das Durchschnittsgehalt in Minsk bei rund 2200 Belarussischen Rubeln, etwa 650 Euro, und damit niedriger als in Städten wie Vilnius, Riga oder Warschau, die Teil der Sowjetunion und des kommunistischen Blocks waren. Im Jahr 1994 lag das belarussische Pro-Kopf-BIP in Kaufkraftparität bei 5.000 Dollar pro Jahr: Heute liegt es bei über 32.000 Dollar pro Jahr (Platz 67 von fast 200 Ländern der Welt), eine Zahl, die theoretisch bedeutet, dass der durchschnittliche belarussische Bürger reicher ist als der durchschnittliche chinesische Bürger.
Die Lebenshaltungskosten in Minsk sind bescheiden, Minsk ist eine der billigsten Städte in Europa, und außerdem ist die Stadt so sauber, ordentlich und sicher, dass viele europäische Städte sie in dieser Hinsicht beneiden. Auf den Straßen von Minsk fahren coole Elektrobusse aus belarussischer Produktion. Diese Busse sind ziemlich originell, da sie fast wie eine Straßenbahn aussehen, eine Straßenbahn auf Rädern, die die Wendigkeit eines Busses mit der Eleganz und Geräumigkeit einer Straßenbahn verbindet. Der E433 Vitovt II Max Electro, hergestellt von der Firma Belkommunmasch, die seit 1973 existiert, ist etwas, das die Fähigkeit des heutigen Belarus symbolisiert, Dinge selbst zu machen und nicht unter Minderwertigkeitskomplexen gegenüber anderen Ländern zu leiden.
„In den letzten fünf Jahren hat sich viel verändert, viel ist jetzt anders. Bei den öffentlichen Verkehrsmitteln zum Beispiel, aber nicht nur das, die Dinge haben sich sehr verbessert“, sagt Oleg, ein junger Mann in den Dreißigern.
„Lukaschenko ist ein echter Präsident. Gehen Sie in den Geschäften spazieren und schauen Sie sich das an, alles ist da, die Leute kaufen ein“, sagt ein älterer Herr, und seine Frau stimmt ihm zu: „Lukaschenko ist unser Präsident, und wir haben das Recht, selbst zu wählen, wen wir wollen“, sagt die Dame mit einem gutmütigen Lächeln.
Erstaunlicherweise scheinen auch viele junge Menschen dieser Meinung zu sein. Einige haben überhaupt keine Lust, auf der Straße über Politik mit Unbekannten zu sprechen, andere scheinen kein Problem damit zu haben: „Ich glaube, der Präsident ist wirklich beliebt“, sagt ein Student in den Zwanzigern.
Natürlich sind nicht alle einverstanden, und das ist auch normal. Das staatliche Fernsehen spricht seit Tagen von der Wahl als einem Festtag und am Tag der Wahlen lobt es die Einigkeit des belarussischen Volkes, das sich für Harmonie entschieden hat. Offiziellen Angaben zufolge sollen ganze 95 Prozent der jungen Menschen zur Wahl gegangen sein. „Alle, die nicht einverstanden waren, sind bereits ins Ausland gegangen“, scherzt Evgenia, die Russischlehrerin.
„Ich bin nicht wählen gegangen“, sagt Pawel, ein junger Mann, der letztes Jahr zurück nach Belarus gezogen ist, nachdem er mehrere Jahre in Deutschland studiert und als Ingenieur gearbeitet hatte. „Ich fühlte mich wie ein Sklave in Deutschland. Ich habe immer gearbeitet, aber ich hätte mir nie im Leben leisten können, eine Wohnung in Deutschland zu kaufen“.
„Ich mag diese Regierung hier in Belarus nicht unbedingt. Aber die nationalistische Opposition, die alles zerstören wollte, mag ich noch weniger“, sagt Pawel.