So reagiert man in Russland auf den Sturz von Assad
(Red.) Viele westliche Medien zeigen ihre Schadenfreude offen, dass mit dem Sturz von Bashar Al-Assad in Syrien ein Verbündeter Russlands eine Niederlage erlitten hat – und damit, wie argumentiert wird, eben auch Russland eine Niederlage habe einstecken müssen. Unser Korrespondent in Russland, Stefano di Lorenzo, gibt im Folgenden einen Einblick, wie das in Russland selber gesehen und kommentiert wird. (cm)
Der plötzliche Sturz des Regimes von Bashar Al-Assad und das Ende der Assad-Dynastie nach mehr als 50 Jahren an der Macht in Syrien hat viele überrascht. Und natürlich auch in Russland. „Nach Gesprächen mit einigen Beteiligten des bewaffneten Konflikts in der Arabischen Republik Syrien beschloss Baschar al-Assad, als syrischer Präsident zurückzutreten und das Land zu verlassen, und er wies die Regierung an, die Macht friedlich zu übergeben. Russland hat sich an diesen Verhandlungen nicht beteiligt“, schrieb das russische Außenministerium in einer Meldung am Tage des Rücktritts Assads.
Niemand hatte erwartet, dass der syrische Autokrat, der den 2011 begonnenen syrischen Bürgerkrieg scheinbar gewonnen hatte, nach einem Angriff einer relativ kleinen Gruppe „Rebellen“ gezwungen sein würde, die Macht und das Land zu verlassen. Nach anfänglichen Schwierigkeiten schien die syrische Armee mit Unterstützung Russlands, des Irans und der Hisbollah die Kontrolle über weite Teile des Landes endgültig zurückgewonnen zu haben. Mit der Eroberung von Aleppo im Jahr 2016 war der Krieg praktisch eingefroren. Doch selbst wenn Assad den Krieg gewann, erwies er sich als unfähig, den Frieden zu gewinnen. Das Ende des Assad-Regimes ist sicherlich eines der wichtigsten Ereignisse des Jahres und eines mit Auswirkungen, die noch lange anhalten werden.
Eine Niederlage für Russland?
Die Botschaft des Westens ist eindeutig: Der Sturz von Assad kann nur als Niederlage und Demütigung für Putin und Russland gewertet werden. Egal, dass eine Gruppe von Terroristen — von vielen westlichen Ländern offiziell als solche eingestuft — gewonnen hat, der Zweck heiligt die Mittel. Laut dem Westen wird in Russland nun versucht, die Bedeutung der russischen Niederlage in Syrien herunterzuspielen. Doch anders als man erwarten könnte, ist die russische Reaktion auf den Sturz seines Verbündeten Assad eine überraschend klare, nüchterne und distanzierte Analyse.
Die Assad-Familie stand Russland seit Sowjetzeiten nahe, als Baschars Vater, Hafiz Al-Assad, die Führung Syriens übernahm. Bashar Al-Assad kam nach dem Tod seines Vaters im Jahr 2000 an die Macht. 2015, vier Jahre nach Beginn des Bürgerkriegs in Syrien, wurde ein russisches Zivilflugzeug, das aus Ägypten zurückkehrte, durch einen Terroranschlag, der der ISIS zugeschrieben wurde, in die Luft gesprengt. 224 Menschen kamen dabei ums Leben. Russland beschloss kurz daraufhin, seinen Verbündeten in Syrien massiv zu unterstützen, um die Bedrohung durch islamistische Extremisten und den Islamischen Staat zu bekämpfen.
Natürlich gab es unter Assads Gegnern nicht nur islamistische Kämpfer und Terroristen, sondern auch viele Syrer, die aufrichtig hofften, dass Syrien eine Demokratie werden könnte. Aber was als friedliche Proteste begonnen hatte, hatte sich bald radikalisiert, nicht zuletzt aufgrund der Intervention der CIA mit der Operation Timber Sycamore, die die syrischen Rebellen bewaffnen sollte. Das sichtbare und greifbare Auftauchen der Bedrohung durch den Islamischen Staat machte es unmöglich, die massive Präsenz gewalttätiger Dschihadisten als bloße Propaganda des syrischen Regimes oder des Kremls abzutun.
Wie wurde die Nachricht vom Sturz Assads in Russland aufgenommen?
Dmitri Trenin, russischer Politikwissenschaftler und ehemaliger Direktor des Carnegie Moscow Centre, sagt: „Mein Eindruck: der Sturz Assads wurde in Russland mit Bedauern und Bestürzung aufgenommen. Russland hat Syrien 2015 vor einer islamistischen Machtübernahme gerettet, 2018/19 einen militärischen Sieg errungen, aber seine Verbündeten Assad und Iran nie vollständig unter Kontrolle gebracht. Die Ziele Moskaus und dieser Verbündeten deckten sich im Umgang mit den Terroristen. Der Astana-Prozess, in den Moskau investiert hat, scheiterte an der sturen Haltung von Damaskus. Aber schließlich ist es ja ihr Land. Die russischen Ziele in Syrien wurden bereits vor fünf Jahren weitgehend erreicht. Die strategischen Errungenschaften Moskaus sind zwei Stützpunkte, ein Luft- und ein Marinestützpunkt. Moskau wird versuchen, sie in den laufenden Verhandlungen mit den neuen Kräften, die an die Macht gekommen sind, zu erhalten. Dies wird von den Gegnern Moskaus auf jede erdenkliche Weise behindert werden. Wir werden sehen, was passiert.“
Andere russische Experten weisen darauf hin, dass niemand in Russland jemals daran gedacht habe, Syrien zu einer bloßen Kolonie zu machen, und dass die russische Militäroperation in Syrien präzise und begrenzte Ziele gehabt habe.
„Es war für Russland äußerst wichtig, nicht in einen langen Krieg hineingezogen zu werden, und grundsätzlich notwendig, sich rechtzeitig aus diesem Feldzug zurückzuziehen, schrieb ich vor neun Jahren. Wie jetzt offensichtlich ist, ist das Gegenteil geschehen“, schreibt Ruslan Puchow, Direktor des Zentrums für Strategie- und Technologieanalyse, Mitglied des Russian International Affairs Council (RIAC), einer russischen Denkfabrik.
„Es ist seltsam, jetzt Argumente zu hören, dass ‚Assad selbst daran schuld ist, dass sein Regime nicht reformiert wurde‘. Das Assad-Regime, als typischer östlicher Despotismus, brauchte keine ‚Reformen‘, sondern Demonstrationstänze über den Leichen seiner besiegten Feinde, um zu überleben und interne Unterstützung zu erhalten. Russland hat es versäumt, diese Unterstützung zu geben, und das war ein grundlegendes strategisches Versagen, das seit Jahren offensichtlich war. Die fortgesetzte Präsenz russischer Militärkontingente in Syrien ist im Wesentlichen auf die mangelnde Bereitschaft zurückzuführen, diese Tatsache anzuerkennen.“
Dem russischen Experten zufolge „hat sich Russland in dem Versuch, seine Kosten in Syrien zu minimieren, zunehmend auf die Aufrechterhaltung eines verrotteten und ineffektiven Status quo konzentriert und im Wesentlichen das Assad-Regime bewacht, ein Regime, das zerfallen war und durch den Bürgerkrieg an Legitimität verloren hatte, ohne Perspektive und ohne die Möglichkeit, die wachsende Dynamik anderer Kräfte und Akteure zu beeinflussen.“
„Russlands strategisch-militärische Schwächung in Syrien nach dem Ausbruch des langwierigen Krieges in der Ukraine (der Abzug der Wagner-Kämpfer und der starke Rückgang der russischen Verstärkungskapazitäten) vervollständigte das Bild. Moskau verfügt nicht über ausreichende militärische Kräfte, Ressourcen, Einfluss und Autorität, um außerhalb der ehemaligen Sowjetunion wirksam mit Gewalt zu intervenieren“, so Puchow.
Kurzum, man kann nicht sagen, dass in Russland versucht wird, eine Niederlage herunterzuspielen. Im Gegenteil, aus den Analysen, die man liest, geht hervor, dass man bereit ist, ganz offen über die in Syrien gemachten Fehler zu reden.
Der türkische „Verrat“
Die dschihadistischen Rebellen der Haiʾat Tahrir asch-Scham HTS („Komitee zur Befreiung der Levante“), denen es innerhalb weniger Tage gelang, eine Stadt nach der anderen zu erobern und Assad in die Flucht zu schlagen, konnten sich bekanntlich der Unterstützung der Türkei sicher sein. Viele haben in den letzten Jahren von der Türkei als dem russischen trojanischen Pferd in der NATO und einem angeblichen russisch-türkischen Bündnis gesprochen, das dem Westen und den vom Westen vertretenen Werten feindlich gegenüberstehe. Doch dieses angebliche russisch-türkische Bündnis war nie in der Lage, eine wirkliche Einigung über Syrien zu erzielen. Der türkische Präsident Erdogan, der der Assad-Familie einst freundlich gesinnt war, hatte sich offen auf die Seite der sunnitischen Mehrheit in Syrien gegen die Tyrannei der alawitisch-schiitischen Minderheit gestellt, für die der Assad-Clan das Symbol war. Im November 2015 standen Russland und die Türkei sogar kurz vor einem offenen Krieg, nachdem ein russisches Flugzeug abgeschossen worden war und für einige Sekunden den türkischen Luftraum verletzt hatte.
Nach dem gescheiterten Putsch in der Türkei im Juli 2016 hatten sich die Beziehungen zwischen der Türkei und Russland deutlich verbessert. Putin soll Erdogan damals vor einem Aufstand von Teilen des türkischen Militärs gewarnt haben, die den türkischen Präsidenten stürzen wollten. Erdogan war dankbar. Und was Syrien anbelangt, so schienen die Abkommen von Astana und Sotschi eine mehr oder weniger stabile Einstellung der Feindseligkeiten zu gewährleisten, die den Interessen aller Beteiligten Rechnung tragen konnte.
Heute fühlen sich doch viele in Russland von Erdogan verraten. Man sagt, die Türkei habe durch die Bereitstellung von Ausbildung und Waffen für die dschihadistischen Milizen gegen die Vereinbarungen mit Russland und Syrien verstoßen. „Es wäre seltsam, von der Türkei zu erwarten, dass sie sich an Vereinbarungen halten würde. Das ist der Osten, heute einigt man sich auf etwas, morgen auf etwas anderes. Waren Sie schon einmal auf einem östlichen Basar? Außerdem ist Syrien für die Türken ein Teil des Osmanischen Reiches, und das ist erst 110 Jahre her. Es war klar, dass Ankara seine Ansprüche nicht aufgeben würde“, schreibt zum Beispiel der russische Journalist Andrei Medwedew.
Die Türkei ist nach wie vor Mitglied der NATO, einem Militärbündnis, das Russland feindlich gegenübersteht. Obwohl die Türkei mit der Idee geliebäugelt hat, dem BRICS-Block beizutreten, um auf eine Weltordnung hinzuarbeiten, die nicht mehr nur auf den Westen ausgerichtet ist und nach dessen Bild und Gleichnis gestaltet wird, dient die Türkei ausschließlich ihren eigenen Interessen. Sie war nie ein Verbündeter Russlands und unterstützt sogar die Ukraine mit Bayraktar-Drohnen, mit deren Lieferung sie noch vor Beginn der letzten Kriegsphase im Jahr 2022 begann. Außerdem hat die Türkei immer darauf bestanden, dass die Krim zur Ukraine gehört. Die Türkei hat, aufgrund der tatarischen Präsenz und der Geschichte, schon immer eine besondere Beziehung zu der Krim gehabt. Andererseits hat sich die Türkei vielen Sanktionen gegen Russland nicht angeschlossen, auch heute noch gibt es zum Beispiel regelmäßige Flüge zwischen Russland und der Türkei. Außerdem hat sich die Türkei mehrmals als Vermittler im Krieg in der Ukraine angeboten.
Der wichtigste Krieg
Andere in Russland betonten jedoch, dass die Priorität für Russland nach wie vor die spezielle Militäroperation in der Ukraine sei. Syrien ist weit weg. So wertvoll ein Verbündeter auch sein könnte, die russischen Interessen in Syrien seien keine vitalen Interessen gewesen. Der Krieg in der Ukraine hingegen sei für Russland existenziell. Auf dem Spiel stehe nicht weniger als das Überleben Russlands als souveräne und unabhängige Nation.
„Warum wurde Assad besiegt? Erstens gehörte sein Vater, der Gründer des modernen Syriens, der kleinen Volksgruppe der Alawiten an (10 Prozent der Bevölkerung). Zweitens akzeptierte die muslimische Bevölkerungsmehrheit (64 Prozent) den säkularen Charakter des Staates nicht. Drittens entsprachen das Einparteienregime und der von seinem Vater eingeführte Ausnahmezustand (1962) nicht den demokratischen Standards des 21. Jahrhunderts. Am Vorabend des unvermeidlichen Endes der militärischen Sonderoperation im russisch-ukrainischen Konflikt lautet die wichtigste Lehre aus Syrien, dass Waffenstillstände unberechenbar sind. Deshalb können wir nur mit der vollständigen und bedingungslosen Kapitulation des neonazistischen Regimes in Kiew zufrieden sein“, schreibt zum Beispiel Sergej Platonow in der Wochenzeitung Argumenty Nedeli.
Kurz gesagt, die russische „Niederlage“ in Syrien hat Russlands Kampfeswillen nicht wirklich gebrochen, sondern im Gegenteil kämpferischer denn je gemacht. Vor allem angesichts eines Westens, der zynisch den Sieg einer Gruppe islamischer Extremisten zu feiern scheint, nur um Russland zu erniedrigen. In Russland wird man so etwas nicht leicht vergessen.